Ich glaube, Klaus Peukert hatte mal in
einer Begründung zu Liquidfeedback geschrieben, das Delegationsketten und damit Superdelegierte ganz natürlich seien, weil man ja seine Stimme entweder an jemanden weitergibt, oder eben nicht.
Small World Phänomen?
Diese Argumentation kann man durchaus vertreten. Aber es ist
keine natürliche Eigenschaft, sondern systemimmanent in
Liquid Feedback angelegt, daß jeweils eine volle Stimme über die komplette Delegationskette akkumuliert wird.
Schauen wir uns soziale Netzwerke an, so fällt auf, daß, aufgrund des natürlichen Vernetzungswillens der Nutzer, jeder andere im Mittel über 5-8 Vermittler erreicht werden kann. Diese Beobachtung ist als
Small World Hypothese bekannt und wurde für verschiedene natürlich gewachsene Netzwerke nachgewiesen.
Als ich letztens über die Erklärungen Klaus' gestolpert bin, hatte er dort verteidigt, daß es gut und notwendig sei, beliebig lange Delegationsketten zuzulassen.
Da LQFB ebenfalls ein natürlich gewachsenes System darstellt, dürfte man bei der Aussage von Peukert ein leichtes Stirnrunzeln bekommen. Nach Small World dürften generell Delegationsketten der Länge 10 völlig ausreichend sein. Wenn man die Beschränkung auf 10 einbauen würde, könnte man Kritiker von LQFB in der Hinsicht besänftigen ohne daß die Hardcore LQFB Befürworter Schmerzen bekämen.
Vertrauen, daß Delegierter in meinem Sinne entscheidet
Ein anderer Aspekt der Aussage
Alles oder Nichts ist, daß wir in der Argumentation den Aspekt des Stimmenübertragens in den Vordergrund gestellt haben. Die weitaus wichtigere Frage, insbesondere wenn wir wirklich Liquid Democracy betrachten, ist die,
warum wir eine Stimme übertragen?!
Wenn ich eine Person wähle, zum Beispiel in ein Vorstandsamt, dann drücke ich mit meiner Wahl mein Vertrauen aus, daß diese Person die Aufgabe in meinem Sinne am besten meistert.
Akzeptieren wir diese Motivation die Stimme zu delegieren, müssen wir uns auch fragen, ob dies, wie
Katja Dathe in ihrem Blogbeitrag suggeriert, eine binäre Vertrauensfrage, eine
Friß-oder-Stirb-Übertragung ist? Nein!
Das bayrische Modell der Präferenzwahl hat dies erkannt, wir sprechen unterschiedlichen Personen ein unterschiedlich hohes Vertrauen aus, für uns die richtigen Entscheidungen zu treffen. Liegt dieses Vertrauen über einem bestimmten Schwellwert, delegieren wir unsere Stimme, sonst eben nicht.
Kommen wir zurück zu Liquid Feedback. Bei diesem System delegieren wir unsere Stimme dann, wenn wir dem Delegierten zutrauen entweder in unserem Sinne weiterzudelegieren oder in unserem Sinne abzustimmen. Auch wenn wir in dem Moment noch nicht wissen, was "in unserem Sinne" heißt. Auch wenn wir einschätzen, daß Person ein Spezialist ist oder jemanden kennen könnte, der ein Spezialist ist.
Da dieses System Delegationsketten zulässt, entwickelt sich mit zunehmender Länge derselben eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Stimmübertragung und der dahinterstehenden Vertrauenssicherheit. Wie oben erläutert, vertrauen wir nicht jedem zu 100%, sondern stufen unser Vertrauen ab.
Exemplarisch vergleichen wir mal folgende
Hypothese: bei Vertrauen >50% delegieren wir unsere Stimme, bei weniger nicht (Weniger als 50% macht keinen Sinn, da ich ja auch eine Münze werfen könnte). Gehen wir weiter mal davon aus, daß jeder in der Delegationskette ein durchschnittlichen Vertrauenswert von 80% aufbringt und daß es nicht sonstige Motivationen gibt nicht selbst abzustimmen.
- Was passiert bei einer Delegationskette der Länge 1? Richtig, Person A vertraut Person B zu 80% und delegiert auf diese.
- Anders sieht der Fall schon bei Delegationsketten der Länge 2 aus, Person A delegiert an Person B in der 80%igen Annahme, daß B richtig entscheidet oder richtig weiterdelegiert. Person B delegiert dann mit 80%igem vertrauen an Person C. Stimmt nun die Stimmdelegation mit der Vertrauensfrage von Person A überein? Schauen wir uns das Ergebnis an: 0,8*0,8=0,64. Das heißt Person A kann nur noch zu 64% davon ausgehen, daß Person C richtig entscheidet.
- Machen wir nun das Exempel mit Delegationskette von 3: 0,8*0,8*0,8=0,512
- Und Delegationskette von 4: 0,8^ 4=0,40.
In dem Beispiel würde ab einer Delegationskette von 4 eine Diskrepanz zwischen der Vertrauenserwartung der Person A und dem tatsächlichen Handeln der Person D entstehen.
Um das an der Stelle klar zu sagen, es spielt in der Betrachtung keine Rolle, ob Person D am Ende der Kette so abstimmt, wie es Person A gut fände.
Es wird nur eine Aussage darüber getroffen, wie sicher Person A sein kann, daß Person D am Ende richtig abgestimmt hätte!
Zusammenhang zwischen Länge der Delegationskette und Vertrauen
Kurzum, die Länge der Delegationskette l ist durch die durchschnittliche Vertrauenssicherheit v in die Richtigkeit der Entscheidungen begrenzt:
v^l = 0,5
Daraus ergibt sich die durchschnittliche Delegationskettenlänge l von
l = log v / log 0,5
bzw. das durchschnittliche Vertrauen v in die Entscheidung des Delegierten
v = 0,5^(1/l)
Für l=1 ergibt sich, daß Vertrauenssicherheit gleich dem Vertrauen in den Delegierten ist.
Da man jetzt ja entgegnen könnte, alles schön und gut, aber das durchschnittliche Vertrauen ist ja gar nicht abschätzbar und muß ja immer ›0,5 liegen, damit ich ja überhaupt jemand Stimme gebe, wäre es da nicht sauberer, einfach an dem aktuellen, von Liquid Feedback propagierten System der
Alles-oder-Nichts Variante der Stimmenübergabe festzuhalten?
Nun, wir wissen ja aus dem aktuellen Liquidsystem, wie groß die durchschnittliche Delegationskette ist. Und über die l-te Wurzel von 0,5 bekommen wir den durchschnittlichen Vertrauenswert, den jeder an den Tag legt. Mit dieser Angabe können wir dann ausrechnen, wie die Delegationsketten zu begrenzen wären, weil sie nicht mehr den Willen des Erstdelegierenden berücksichtigen.
|
Vertrauenssicherheit als Funktion aus durchschnittlicher
Delegationskettenlänge bei durchschnittlichen
Vertrauen von 80% in Entscheidung des
jeweils nächsten Delegierten |
Nach Angaben von
@Simulakrum liegen die Durchschnittslängen zwischen 2 und 4,7. Das durchschnittliche Vertrauen in den nächsten Delegierten liegt demnach zwischen 70% und 86%.
Wenn wir Delegationskettenlängen verwerfen wollen, die eine Vertrauenssicherheit von weniger als 50% aufweisen, muß gelten:
v^l > 0,5
Um auf Small World zurückzukommen, dort schrieb ich, daß Länge 10 der Delegationskette auf jeden Fall ausreichen müßte. Bei l=7 beträgt das Vertrauen in Entscheidung des nächsten Delegierten 90,6%, bei l=10 sogar 93,3%. Für eine Partei, deren Mitglieder zu den eher kritischen Menschen zählen ein optimistischer Wert.
So, und nun hoffe ich, daß meine Beobachtung nicht purer Nonsense sind… :)
TL;DR
Je weiter meine Stimme delegiert wurde, desto unsicher ist es, ob in meinem Sinne abgestimmt wird.